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Evolution ist fortwährende Heilung
Interview von Anne Devillard mit Hans-Peter Dürr - Teil 2 von 3
Aber der Evolutionsschritt vollzieht sich ununterbrochen. Z. B. in unserem Organismus geschehen jede Sekunde biochemische Prozesse, die ihn veranlassen, das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Das bedeutet, dass ständig das optimale Gleichgewicht hergestellt wird. Und schon in der nächsten Sekunde...
... wird es gestört...
            
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… und wieder neu vermischt. Könnte man nicht sagen, dass die Geschichte der Evolution bzw. die Geschichte der Menschheit ein ewiges Hinsteuern auf diesen Punkt des vollkommenen Gleichgewichts ist?

Ja, aber diese Formulierung des vollkommenen Gleichgewichts ist vielleicht missverständlich. Denn als angestrebte Tendenz in Richtung eines vollkommenen Gleichgewichts könnten wir auch in der Bewegung eines Pendels sehen, der bei seiner Schwingung dem tiefsten Punkt, einem Zustand des stabilen Gleichgewichts, zustrebt und dort auch am Ende zur Ruhe kommt, was das Unbelebte charakterisiert. Für das Lebendige ist es vielmehr der höchste Punkt eines Pendels, wenn es gewissermaßen auf dem Kopf steht, der Ruhepunkt eines instabilen Gleichgewichts, das die hohe Sensibilität des Lebendigen widerspiegelt. Um diese Sensibilität zu bewahren, lebendig zu bleiben, bedarf es eines fortwährenden Ausbalancierens, dieses ewigen Hinsteuern auf diesen  Gleichgewichtspunkt. 

Die Evolution ist im Grunde genommen eine fortwährende Heilung nach der ständigen Störung durch die kreative Differenzierung. Die Menschheitsgeschichte oder allgemeiner die Geschichte des Lebendigen ist eine Heilungsgeschichte des Sich-ewig-Wandelnden. In unserer Begrifflichkeit müsste man sagen: „Das Kreative ist der Störenfried und damit eigentlich das so genannte ‚Böse‘“. Denn, wenn es nicht das Kreative gäbe, das nach Anderssein und Einzigartigkeit strebt, dann würde alles ständig in der Balance bleiben und das, was einmal als Ganzes funktioniert, würde ewig weiter funktionieren. Es wäre verständlich bei jeder winzigen Abweichung zu fordern: „Das muss verhindert werden!“ Doch der Weg der lebendigen Evolution verlangt notwendig diese Abweichungen und lassen uns erkennen, dass das Kreative letztlich doch das so genannte „Gute“ ist, wenn es ein gewisses Maß nicht übersteigt. Denn es führt nur dann zur gewünschten lebendigen Evolution, wenn diese Veränderung einen Heilungsprozess in Gang setzt, in dem eine kooperative Integration gelingt und damit die Heilung letztlich glückt.
 

Die meisten von uns sind aber geneigt, das Unerwartete, das Fremdartige als das „Böse“ aufzufassen, das man zunächst nicht haben und  wegschicken will. Aber im Augenblick, wo man dieses vermeintlich Böse annimmt, schafft die Polarität ein Kraftfeld, das absolut notwendig ist, damit etwas vorwärts geht.

Ja, genau. Wenn ein Störenfried von außen kommt, ist unser erster Reflex zu sagen: „Lass uns in Ruhe! Wir wollen keinen Ausländer! Wir haben hier alle denselben Glauben, und nun kommst du mit deiner anderen Religion!“ Uns scheint es eine natürliche, legitime  Reaktion zu sein, ihn abzuwehren. Aber diese Reaktion liegt nur daran, dass wir die Differenzierung als eine Trennung betrachten und die Menschheit nicht als Ganzes wahrnehmen. Wenn wir in dem anderen einen Bruder erkennen könnten, der lange Zeit weg war und nun wieder in unsere Nähe gerückt ist, würden wir ihm sagen: „Du bist jetzt ganz anders, aber ich erinnere mich noch daran, dass wir einmal zusammen waren und gut miteinander gespielt haben“, dann würde unsere heutige Welt anders aussehen. Statt dessen sagen wir: „Du bist das Böse. Du bringst etwas Fremdes und das stört uns.“ Es ist allerdings wichtig, dass diese Störung innerhalb eines gewissen Maßes bleibt, dass der Neuankömmling z. B. nicht eine Familie völlig durcheinander bringt, indem er sagt: „Ich will jetzt alles ganz anders machen! Ihr müsst das Kreuz abhängen, weil es mich stört.“ Nein, wenn  er in die Familie kommt, sollte er sagen: „Ich bin jetzt da, ich bin ein Gast.“ So lernen beide von dem anderen und am Schluss finden sie einige Eigenschaften, die allen zugute kommen. Der andere ist für mich dann kein Fremdling mehr, seine Sprache ist vielleicht für mich fremd, aber hinter der Sprache tanze ich mit ihm oder singe mit ihm und dann merke ich auf einmal, dass wir Partner sind und Freunde werden können.

Wenn wir überhaupt glauben, uns in unserer Beurteilung auf die beiden Extreme  „Gut“ und „Böse“ beziehen zu müssen, so ist für mich das „Böse“ eigentlich mehr die Maßlosigkeit des „Guten“. Es gibt für alle Änderungen die Möglichkeit der Übertreibung, bei der sich ihre Bewertung umkehrt. Wenn z. B. die Infektion klein ist, hat der Körper eine echte Chance, sich damit auseinanderzusetzen. Der Heilungsprozess braucht Zeit, weil er eine Kommunikation mit dem Ganzen verlangt. Das ist das große Missverständnis in unserer Zeit, dass wir denken: „Die Natur folgt zwar der Evolution, aber sie entwickelt sich viel zu langsam. Wir treiben sie jetzt  mit ein bisschen Genmanipulation voran. Dann geht es viel schneller.“ Wie verträgt sich aber in diesem Rahmen das Neue mit dem gesamten Organismus? Wir haben Kräfte entfesselt, die wir meines Erachtens nicht mehr richtig steuern können. Die Evolution ist nämlich ein langsamer Prozess, weil es ein Prozess des Ganzen ist, das an die Erinnerung des uns Gemeinsamen angekoppelt ist.


In jedem Augenblick sind alle Potentialitäten vorhanden

Krankmachende Faktoren sind an für sich nicht das Problem. Es hängt, wie Sie sagen, von der Dosis ab. Jeden Tag werden wir mit Fremdenergien jeder Art konfrontiert, womit der Organismus sich gut arrangieren kann. Wenn die Fremdeinflüsse aber mit der Zeit zu stark werden oder zu lange auf einen einwirken, dann entwickelt sich die Erkrankung. Es ist das gleiche Phänomen mit den Kräften: „Wie lange kann ich mit diesen Fremdkräften jonglieren und wann muss ich sagen: Stopp! Jetzt ist es zu viel.“ Ich glaube, das hat vordergründig mit einem Gespür für sich selbst zu tun.

Ja, zweifellos. Und das liegt einfach daran, dass wir alle ein gewisses Referenzsystem zur Verfügung haben, so dass die Art und Weise, wie wir aufgewachsen sind, das bestimmt, was für uns evident und die Grundlage unseres Denkens ist. Z. B. stehen hinter dem Wort „Liebe“ oder „Gott“ oder „Vertrauen“ usw. gewisse Erfahrungen. Unsere Unsicherheit führt uns dazu, uns nicht auf unser Vertrauen zu verlassen. Unsere Angst hält uns immer wieder davon ab, in Zeiten der Schwierigkeiten aus der inneren Quelle zu schöpfen und zu sagen: „Ich brauche nur an meine innere Quelle zu gehen.“ Aber viele sagen: „Sie ist für mich nicht so verlässlich.“


Denn sie denken: „Ich bin ja krank geworden! Das ist der offenkundige Beweis, dass ich mich nicht auf diese Quelle verlassen kann!“

Ja, sie sind krank geworden und das macht sie unsicher: „Warum werde ich denn im Stich gelassen? Warum lässt Gott es zu?“ Aber aus meiner Sicht ist da niemand, der das so persönlich tut, sondern wir sind ein Teil der einen großen Wirklichkeit und Er wirkt nur durch uns.

Ich vergleiche die Welt gern mit einem Stoß von Spielkarten. Jede Karte ist die Welt, wie wir sie jetzt sehen. In jedem Augenblick, den wir Gegenwart nennen, liegt eine Spielkarte aufgedeckt vor uns. Im nächsten Augenblick ist auch diese Karte von einer nachfolgenden Karte wieder überdeckt. Die Wirklichkeit zeigt sich uns also eigentümlicherweise nicht als Ganzes, sondern immer nur scheibchenweise, Karte um Karte, Schritt für Schritt in einer Folge, die wir Zeit nennen. So schauen wir die jeweils aufgedeckte Karte genau an und dann die nächste und übernächste usw. und entdecken zu unserer Freude gewisse Regelmäßigkeiten. Da ist z. B. ein Herz-As, die nächste Karte eine Herz-2, die nächste eine Herz-3 usw. Und damit glauben wir eine große Entdeckung gemacht zu haben: „Aha, die Welt besteht aus Herzen!“ Bald darauf entdecken wir eine weitere Gesetzmäßigkeit, dass nämlich in jedem Augenblick die Zahl der Herzen um eins zunimmt. Und so sagen wir: „Das Grundgesetz der Natur des Kartenstoßes ist, dass die Welt aus Herzen besteht und deren Zahl in jedem Augenblick um eins zunimmt.“ Das, was wir als Naturgesetz bezeichnen, erlaubt uns jetzt zurückzurechnen, was vorher war, und zu prophezeien, was in der Zukunft sein wird. Die Welt erscheint von uns verstanden, die Struktur der Wirklichkeit entziffert, die Schöpfung, der Kartenstoß durchschaut. Und wir fragen uns, warum der „liebe Gott“ uns nicht von vornherein in die ganzen Karten des Stoßes schauen lässt, sondern uns in jedem Augenblick jeweils nur eine Karte – und diese auch nur einmal – zeigt. Wenn wir jetzt aber bei Herz-10 angekommen sind, kommt eine große Überraschung: Plötzlich kommt keine Herz-11 wie erwartet, sondern ein Herz-Bube! Kurzes Erschrecken: „Das Naturgesetz stimmt nicht ganz!“ Wir brauchen eine Verfeinerung unseres Naturgesetzes, um erfolgreich prognostizieren zu können.
 
Dies folgern wir jedoch aus unserer alten klassischen Weltvorstellung. Die moderne Weltsicht zeigt uns einen ganz anderen Weg: Der liebe Gott konnte uns gar nicht zeigen, was in dem Stoß enthalten ist, weil er es selber nicht weiß! Die Zukunft ist wesentlich offen! Er verbirgt uns also nichts in irgendwelcher dunklen Absicht. Jede Karte wird vielmehr erst in dem Augenblick gemalt, in dem sie aufgedeckt wird. Alles, was in der Welt existiert, ja, mehr noch alles, was in ihr an Potentialität innewohnt, ist gewissermaßen am Malprozess der neuen Karte beteiligt – auch wir! D. h., in jedem Augenblick steht die Möglichkeit offen, die Welt neu zu erschaffen – uns inbegriffen. Die Schöpfung enthält ihren Schöpfer.
 
 
Wir sind viel mehr, als wir begreifen

Also besteht in jeder Sekunde die Möglichkeit einer Heilung!

Ja, die Potentialität ist jederzeit vorhanden. Was sich in uns abspielt, ist viel reicher, als was die Wissenschaft, die Medizin inbegriffen, uns glauben lassen will. Wir können die Welt und alles, was mit uns und in uns geschieht, auf eine äußerliche Weise wahrnehmen, d. h. als etwas, das von uns getrennt ist. Oder wir können durch Meditation z. B. eine Innensicht erleben, die es uns ermöglicht, in den Hintergrund abzutauchen, dorthin, wo alle Kann-Möglichkeiten, wo alle Potentialitäten einer Heilung gespeichert sind. In der Potentialität gibt es keine eindeutige Ursache-Wirkung-Beziehung, sondern die Zukunft ist im Wesentlichen offen. Sie ist aber nicht zufällig, sondern geprägt durch die Erinnerung an das Vergangene. Es ist wichtig, uns darüber klar zu sein, dass es einen grundlegenden Unterschied gibt zwischen der Wirklichkeit, die wissenschaftlich erkennbar und beschreibbar ist, und der eigentlichen Wirklichkeit, die nur durch Innenerfahrung zugänglich wird. Die Wissenschaft hat ihre Grenzen, weil sie immer mit einem Netz, also mit einem Bezugssystem arbeitet. D. h., da gibt es nur bedingtes Wissen, nur entweder/oder nach dem Motto: "Wenn das eine richtig ist, kann nicht das andere auch richtig sein, also muss es falsch sein".

Ich möchte die Begrenztheit des Wißbaren in der Wissenschaft anhand eines Gleichnisses des englischen Astrophysikers Sir Arthur Eddington verdeutlichen. Eddington vergleicht einen Naturwissenschaftler mit einem Ichthyologen, einem Fischkundler, der die Welt im Meer erforschen will. Er fährt dazu aufs Meer hinaus und fängt Fische. Nach vielen Fischzügen und sorgfältigen Überprüfungen seiner Beute gelingt ihm die Entdeckung des ersten Grundgesetzes der Ichthyologie: "Alle Fische sind größer als fünf Zentimeter!" Er nennt dies ein Grundgesetz, weil er bei keinem Fang jemals einen Fisch fand, der kleiner als fünf Zentimeter war, und daraus auf eine Allgemeingültigkeit des Befundes schließt. Auf dem Heimweg trifft er seinen besten Freund, einem Metaphysiker und Philosophen, und erzählt ihm von seiner großen wissenschaftlichen Entdeckung. Der entgegnet ihm: "Das ist doch gar kein Grundgesetz! Dein Netz ist einfach so grob, dass dir die kleineren Fische stets durch die Maschen gehen." Aber der Ichthyologe ist durch dieses Argument überhaupt nicht beeindruckt und antwortet entschieden: "Was ich mit meinem Netz nicht fangen kann, liegt prinzipiell außerhalb fischkundlichen Wissens, es bezieht sich auf kein Objekt der Art wie es in der Ichtyologie als Objekt definiert ist. Für mich als Ichtyologe gilt: Was ich nicht fangen kann, ist kein Fisch!"
Das bedeutet auf die Wissenschaft übersetzt: Um wissenschaftliche Erkenntnisse zu etablieren, benützen wir Wissenschaftler immer ein Netz, obwohl die meisten von uns sich über die Existenz und die Art des Netzes nicht im Klaren sind. Je nachdem, welches Netz wir verwenden, produzieren wir sozusagen eine andere Wirklichkeit, eine andere Realität. Unser Auge verhält sich ähnlich: Wir sehen ja nur gewisse Farben, gewisse Wellenlängen, die eine Oktave im elektromagnetischen Spektrum darstellt. Weil unsere Wahrnehmung begrenzt ist, sehen wir nur die wenigen Wellenlängen einer Oktave und merken nicht, dass es unzählige Oktaven gibt.

Das wissenschaftliche Denken ist wie alles Denken immer fragmentierend und analysierend. Alles, was wir untersuchen und verstehen wollen, zerlegen wir. Und das ist auch in unserer Lebenswelt eine sehr vorteilhafte und erfolgreiche Methode, an komplizierte Dinge heranzugehen. Unsere fragmentierende Denkweise ist selbstverständlich nicht zufällig. Sie hat sich in einer langen stammesgeschichtlichen Evolution langsam herausgebildet und dies zunächst einmal vor allem, um uns Menschen auf dieser Erde unter den hier vorgegebenen äußeren Umständen eine Überlebenschance zu geben. Wir könnten mit dieser immer größeren Komplexität nicht umgehen, wenn wir sie durch unser analytisches Denken nicht reduzieren würden. Aber indem ich es tue, greife ich ein, ich handle und diese Handlung kann auch Schäden anrichten. Aber diese Handlungsfähigkeit ist in meiner Natur, in meiner Persönlichkeit, und sie treibt die Evolution an.
 
 

Der Wunsch nach Öffnung

Könnte man sagen, dass es im Menschen einen angeborenen Drang nach Wachstum, nach Heilung gibt und dass es dieser Impuls nach, sagen wir, Vervollkommnung ist, der die Evolution vorantreibt?

Man spricht immer von der Vervollkommnung. Ich weiß nicht, ob es der richtige Ausdruck ist. Vervollkommnung bezieht sich für mich auf eine „altmodische“ Vorstellung, bei der wir an etwas Abgeschlossenes denken. Für mich ist auch das Wort „das Ganze“ nicht ganz richtig, weil im Sprachgebrauch „das Ganze“ etwas beschreibt,  dem keine Teile fehlen. Wenn die Wirklichkeit oder Potentialität aber unauftrennbar ist, so gibt es keine Teile mehr, sondern nur noch Beteiligte.

Ich würde den Wunsch nach Vollkommenheit eher als Wunsch nach Öffnung bezeichnen, d. h. den Wunsch, in etwas zu blicken, das keine Grenze hat. Es ist, als betrachtete ich eine Landschaft: Ich schaue hinein und sehe bis zum Horizont. Aber einmal dort angekommen merke ich, dass der Horizont gar keine Grenze ist, denn, wenn ich an diese Grenze gelangen will, dann verschiebt sie sich immer weiter. D. h. der Horizont hängt von meiner Sichtweise ab. Mit meiner Sensibilität kann ich den Horizont vor und zurück schieben. D. h. auch, dass das Ego letzten Endes ein Akt ist, in dem ich den Horizont ganz in meinem leiblichen Körper hineinziehe.


… also enger mache…

… und dieses Enger-machen ist vielleicht vergleichbar einem Prozess, der stattfindet, wenn ich ein Bild betrachte. Wenn ich ein Gemälde, das ich bewundere, anschaue, habe ich zunächst das ganze Bild in seinem vollen Zusammenhang vor mir. Wenn sich mein Auge nun auf eine Stelle fixiere, z. B. auf  das Auge der Madonna oder auf einen gewissen Lichtstrahl bzw. eine gewisse Farbenkombination richte, dann fokussiere ich meine Aufmerksamkeit auf diese eine Stelle oder diesen Aspekt, lasse sie aber in ihrem ganzen Umfeld. D. h. ich spüre immer noch das ganze Bild. Jeder Maler sagt, dass er – wenn er eine Weile gemalt hat – den Pinsel hinlegt und dann zurückgeht, um gewissermaßen das gesamte Bild in seiner Phantasie, in seiner Vorstellung wieder herzustellen. Denn, wenn ich mich ausschließlich auf einem Teil konzentriere, dann blende ich das Übrige aus und verliere womöglich den Kontakt zum Ganzen, das ganz wesentlich ist und die Schönheit des Bildes ausmacht.



Das ist eigentlich die Haltung, die wir alle im Leben haben sollten: den Pinsel fallen lassen, um in dieser Position des Abstands das Ganze, den Zusammenhang wahrzunehmen, wo die ganzen Differenzierungen entstehen.

Ja! Pinsel weg! Und in diesem Zustand bin ich nicht mehr tätig, sondern empfänglich. Es ist wie ein Öffnen der Hand. Ich lasse den Vogel wieder fliegen und ich bin sicher, dass er beim Fliegen wieder die ganze Landschaft sehen wird. Und ich beobachte diesen Prozess. Nichts geht verloren. Schließlich kommt der Vogel wieder in meine Hand zurück. Aber ich schließe die Hand nicht und zerdrücke ihn nicht, so dass er nicht mehr fliegen kann, sondern ich empfange seine Botschaft, die eine Aufforderung nach Öffnung ist. Es geht in dem Sinn nicht um Fülle, denn die Fülle hat für mich mehr mit Leere zu tun. Aber das Wort „Leere“ finde ich auch nicht zutreffend, denn die Leere ist mir zu leer. Es ist die Fülle, es ist die Öffnung, die mit der Leere des Gemeinsamen, mit dem, was ich nicht benennen kann, zu tun hat.
 

Eine virtuelle Leere also.

Eine virtuelle Leere, ja! Ich stehe mit leeren Händen da, aber ich stehe eigentlich in der Fülle. Ich sehe nicht bis zum eigentlichen Horizont, sondern ich sehe ziemlich weit, und im nächsten Schritt sehe ich noch mehr, weil ich mich ein bisschen erhöhe. Dann rutscht mein Horizont weiter nach außen. Oder ich bewege mich in einer anderen Richtung und sehe so auch mehr. Also ergeben sich durch verschiedene Perspektiven für mich in dieser Fülle einige Differenzierungen, die mir zeigen, dass ich auch an dem kreativen Prozess teilnehme. D. h., dass ich selbst allein durch meine Existenz auch dazu beitrage, dass sich alles immer wieder verändert, so dass ich in jedem Augenblick einer neuen Welt gegenüberstehe und das Ende überhaupt nicht abzusehen ist. Manche Leute werden erwidern: „Der Raum schließt sich! Und die Zeit schließt sich auch!“ Nein! Für mich schließt sich die Zeit gar nicht, weil diese Zeit die ewige, weite Öffnung ist. Und wir befinden uns dauernd in dieser Öffnung und tragen dazu bei, dass das, was potentiell an Möglichkeiten vorhanden ist, sich in einer Kristallisation bzw. in einem Gerinnungsprozess gewissermaßen auch dinglich manifestiert und Realität wird.

Wir können stets auf die ganze Weisheit, die eigentlich immer da ist, zurückgreifen, und unsere sinnliche Wahrnehmung ermöglicht es uns, den Hintergrund abzutasten.

 
 
Unsere Sinne sind Vermittler zu der anderen Dimension

Unsere Sinne schaffen also die Brücke zur anderen Dimension.

Ja. Für mich ist nicht ausschließlich die Innenschau wichtig. Uns sind ja auch unsere Sinne gegeben. Über diese Brücke kann ich auf das andere zurückgreifen. Aber die Sinne sind nur ein Vehikel dazu, sie sind nur Vermittler, deshalb ist es wichtig, dass man nicht darin stecken bleibt. Panikkar vergleicht unsere Sinne mit einem Postboten, der uns den Brief der Geliebten abliefert. Aber dann auf einmal bricht dieser Briefwechsel ab, und wir fragen uns: „Wo ist meine Geliebte?“. Wir gehen auf ihre Suche und finden heraus, dass sie geheiratet hat. Wen? Den Postboten!

Es scheint mir eine wichtige Sache zu sein, was im Augenblick durch den Kontakt zwischen der östlichen und westlichen Welt passiert. Die östliche Welt, die gewissermaßen die Harmonie im Hintergrund immer sieht, und wir, die sie wiederum zu wenig wahrnehmen. Die westliche Welt, die aufgrund ihrer äußeren Erfolge sagt: „Warum brauche ich denn diese andere Welt? Wir sind hier Gott selber, wir können uns das alles selber erschaffen.“ Das geht zu weit. Es ist aber wichtig, dass wir erkennen, dass wir eine schöpferische Kraft haben, d. h. dass das harmonische Ganze etwas Lebendiges ist, an dem wir selbst teilhaben. Und indem wir es erkennen, ändern wir es auch.

Wir müssen jetzt ein Maß finden, dass das, was neu ist, mit genügend Behutsamkeit aufgenommen wird, damit wir nicht selbst aus der Evolution hinausgeworfen werden. Und wenn uns das gelingt, dann haben wir eine Welt, die an Tiefe sehr viel mit der orientalischen Welt zu tun hat, aber die noch offener ist, weil uns bewusst ist, dass unser jetziges Leben ein Beitrag erlaubt, etwas zu verändern. Das heißt eigentlich, dass wir als Lebewesen – und weil wir handlungsfähig sein müssen – ganz klar wissen müssen, was in uns angelegt ist, damit wir hier Veränderungen vornehmen können. Wir besitzen Fertigkeiten, die so fantastisch sind, dass wir unser ganzes Leben mit den Fertigkeiten, die uns zur Verfügung stehen, ausfüllen können.

Ich kann z.B. ein bestimmtes Musikstück fehlerlos und ausdrucksvoll spielen und bekomme viel Beifall. Dann spiele ich es auf dieselbe Art und Weise und merke gar nicht, dass das Publikum nicht mehr richtig zuhört, weil ich nur noch gekonnt und nicht mehr aus meinem Inneren heraus spiele. Aber diese Wahrnehmung verändert mich und öffnet mir andere Dimensionen. Ich spiele jetzt dieses mir vertraute Musikstück mit anderen Variationen – und siehe da: Ich – und meine Musik – sind wieder lebendig.
 

... dies ist der zweite Teil einer dreiteiligen Serie, in welcher wir das Interview, das Anne Devillard mit Hans-Peter Dürr geführt hat, veröffentlichen möchten.





Das Interview ist dem Buch Heilung aus der Mitte - Werde der, der du bist von Anne Devillard entnommen, das im Verlag Driediger (www.driediger.de) erschienen ist.

Um zu unserer Rezension des Buches zu gelangen, bitte >>hier klicken.




Ursprünglich ist es in der Zeitschrift NATUR & HEILEN 1/09 erschienen (www.naturundheilen.de)

Mehr zu Anne Devillard auf ihrer Homepage www.annedevillard.de




 
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